Die "Sudetendeutsche Geschichte"
"Gibt es überhaupt eine "sudetendeutsche Geschichte"?
Hat der Name ,Sudetendeutsch" doch erst nach 1918 Geltung erlangt.
Daß eine Schicksalsgemeinschaft erst spät einen Namen findet, bedeutet aber nicht,
daß sie keine Geschichte hat.
Auch der Name Großbritannien war bis zu einem gewissen Grade ein künstliches Gebilde,
das über die Verlegenheit darüber hinweghelfen sollte, Engländer, Schotten und Waliser zu
einer Nation zu verbinden.
Der Name Tschechen für sämtliche slawischen Bewohner der Länder Böhmen, Mähren und Schlesien ist ebenfalls verhältnismäßig jungen Datums. Die Mährer haben sich lange dagegen verwahrt, Tschechen zu sein. Denn Tschechen, das waren ursprünglich nicht einmal alle Slawen Böhmens. Aber seit dieser Stamm die Herrschaft über Böhmen erobert und die slawischen Nachbarstämme in diesem Lande unterworfen hatte, gab er dem Lande selbst seinen Namen.
Die Deutschböhmen, Deutschmährer und Schlesier bildeten seit alters eine Schicksalsgemeinschaft. Solange aber das Königreich Böhmen ein tschechischdeutscher Staat war, bedurfte es keines besonderen Namens für die Schicksalsgemeinschaft der Deutschen in diesem Staate. Ein Deutscher aus Böhmen wie ein Tscheche aus Böhmen war eben Böhme.
Erst mit den Kämpfen zwischen den Völkern Österreichs, seit 1848 vor allem, wurde es nötig, zwischen Tschechen und Deutschböhmen, Deutschmährern und tschechisch sprechenden Mährern zu unterscheiden. Und erst die Gründung eines tschechischen oder tschechoslowakischen Staates ließ die Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen in den Sudetenländern, den "historischen Ländern" dieses tschechisch-slowakischen Staates, zu einem so bedeutsamen Faktum werden, daß die in verschiedene Sprachstämme und geschichtliche Landesgemeinschaften geteilte Volksgruppe sich auch einen Namen geben mußte.
Wie einst aus germanischen Stämmen ein deutsches Volk entstanden war, so folgte im Bereich der deutschen Volksgruppe, die bei der Gründung des Zweiten Deutschen Reiches 1871 außerhalb der Staatsgrenzen des deutschen Nationalstaates blieben, die Namensgebung den geschichtlichen Ereignissen.
Die Geschichte der Sudetendeutschen ist also die Geschichte der Deutschen in den Sudetenländern. Und sie ist noch etwas mehr. Sie umschließt ein Problem, das gerade in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts weltgeschichtliche und weltbewegende Bedeutung erlangt hat: das Problem des Zweivölkerstaates, des Nationalitätenstaates, des übernationalen Staatsgebildes.
Und dieses Problem ist älter als die sudetendeutsche Volksgruppe. Die Erforschung der Vorgeschichte und Frühgeschichte Böhmens und Mährens hat ergeben, daß in diesem Raum seit Urzeiten niemals nur eine Völkerschaft saß, sondern daß er immer von zwei und oft noch mehr Völker besiedelt war.
Das Zusammenleben der Völker im böhmisch-mährischen Raum, das uns im 20.Jahrhundert als das besondere sudetendeutsche Problem begegnet und das im 19.Jahrhundert als "die böhmische Frage" das Kernproblem Österreichs wurde, ist uralt. Und es ist niemals nur eine "innerböhmisches" Problem gewesen, sondern immer auch eine Frage der Nachbarvölker, der staatlichen oder der Herrschaftsordnung Mitteleuropas.
Die sudetendeutsche Geschichte endete nie an den Grenzen des nationalen Siedlungsgebietes, wiewohl diese sich seit dem 14.Jahrhundert auf eine erstaunliche Weise konstant erwiesen haben.
Sie war frühzeitig auf Mittelpunkte bezogen, die im fremden Sprachgebiet lagen: Prag, Olmütz, Brünn, Pilsen, Budweis. Sie hat ebenso früh Angelpunkte im weiteren deutschen Sprachraum, aber außerhalb Böhmens und Mährens: in Leipzig, in Breslau, in Regensburg, in Wien.
Wer die Geschichte der Sudetendeutschen verstehen will, muß auf Schritt und Tritt durch die Jahrhunderte den Verästelungen und Verflechtungen folgen, die Spannungen aufzeigen, die mit ihren oft weitgespannten Bogen den schmalen Streifen deutschen Landes in Böhmen oder Mähren überwölben, die von Prag nach Frankfurt, von Brünn nach Wien, von Olmütz nach Krakau und später dann auch von Prag nach Moskau oder Paris und London reichen und die für das Schicksal der Volksgruppe soviel wichtiger waren, als was sich zwischen Komotau und Bodenbach, zwischen Jägerndorf und Sternberg, zwischen Bergreichenstein und Krummau abspielte.
Die weltbewegende Bedeutung, die Böhmen für die Geschichte Europas hatte, ist durch die räumliche Lage des Landes bedingt. Böhmen bildet die Mitte des europäischen Festlandes. Viele Handelswege führten von Norden nach Süden und von Westen nach Osten durch Böhmen. So ist Böhmen die große Straßenspinne, der Kreuzweg Europas geworden.
Als das große "herzynische Gebirge", als herzynischer "Wald" begegnet uns Böhmen in den ältesten Berichten, die aus dem Altertum überliefert sind. Mittelgebirge, Bruchschollen gewaltiger Gebirgszüge aus dem Altertum der Erdgeschichte, umrahmen den böhmischen Kessel.
So dicht und gewaltig die Wälder dieser Gebirge waren, so früh bahnte sich der Mensch über Pässe einen Weg. Von Passau führte der Goldene Steig zum Oberlauf der Moldau. Aus Regensburg gelangte man über die "Furth im Walde" frühzeitig schon nach Böhmen.
Vom oberen Main her umging man das Fichtelgebirge und trat durch die Egerpforte ins Innere der Festung Böhmen. Das Erzgebirge galt lange Zeit als schwer überschreitbar, wurde aber im Mittelalter auf vielen Staßen passierbar. Es bildete den Nordwestwall der böhmischen Festung. Jenseits des Passes von Nollendorf schließt sich das Elbsandsteingebirge an, durch das sich die Elbe ihren Weg bahnt. Die Kämme des Lausitzer, des Iser- und des Riesengebierges bilden mit denen des Erzgebirges einen stumpfen Winkel, wodurch Böhmen seine charakteristische Form erhält.
So entsteht auf der Karte das Bild des Kessels, der Festung Böhmen.
Doch haben weder diese Berge mit ihren schwer zu durchdringenden Wäldern die Heere feindlicher Völker gehindert, in die Festung Böhmen einzudringen, noch hielten sie die Kolonisten ab, innnerhalb des Kessels zu siedeln.
Und gerade die Unwirtlichkeit der gebirgigen und dicht bewaldeten Randlandschaften schuf den Zwang, Kolonisten heranzuziehen.
Es ist die Verkehrslage Böhmens, die dem Land eine außerordentliche militärische Bedeutung gab, und die die Beherrscher dieses Kreuzweges nicht nur zu begehrten Bundesgenossen oder zum Ziel von Angriffen machte, sondern auch zu bedeutsamen Akteuren im Spiel der großen Geschichte. Ein Volk, das im Mittelpunkt dieser Straßenspinne saß, konnte weit über seine Kopfzahl hinaus Bedeutung gewinnen. Aber es war selbstverständlich auch dauernd gefährdet und zu einer sehr vorsichtigen Politik gezwungen. Es gehörte zu den Mitteln seiner Selbstbehauptung, daß es in den Rahmen der größeren staatlichen Gemeinschaft eintrat, die auch den Nachbarraum einschloß, und daß es Teile des größeren Nachbarvolkes mitverantwortlich für sein Geschick machte.
Hier liegt von allem Anfang an eine besondere geschichtliche Aufgabe der Sudetendeutschen. Sie sind eine Brücke zum deutschen Gesamtvolk, sind Mittler, aber auch sehr oft eine Art Faustpfand in der Hand der Slawen. Sie vermitteln den Slawen deutsches Wesen und deutsche Kultur, aber sie sind zugleich die vorgeschobenen Grenzwächter, nicht nur im Kampf um Volkstum und Sprache, sondern für die Behauptung deutscher Macht.
Solange die Besatzung der Festung Böhmen zu einem Viertel oder einem Drittel aus Deutschen bestand, konnte diese Festung nicht ohne weiteres gegen Deutschland wirksam sein. Solange in Böhmen ein slawisches Volk als souveräner oder wenigstens autonomer Körper bestand, konnte aber auch Deutschland mit dieser Festung Böhmen nicht nach freiem Belieben verfahren. Auf dieser Erfahrung beruht bereits die Politik der böhmischen Herzöge und Könige des Mittelalters und umgekehrt die der deutschen Kaiser und Könige. Von dieser historisch- geographischen Erkenntnis ließ sich noch Bismarck leiten, der die Schlüsselstellung Böhmens klar erkannt hatte.
Je mehr sich das Denken der Völker und Politiker ideologisierte und ohne Rücksicht auf geschichtliche Tatsachen und Erfahrungen im Sinne des reinen Nationalstaates orientierte, desto mehr verlor man das Verständnis für diese schwierige Doppelrolle der Völker im böhmischen Kessel.